„Hast du Lust, unter Leute zu gehen?“ – wie gerne ich heute Abend mit ein paar FreundInnen und einem Ticket aus Papier in der Hand ins Theater gehen würde! Mal wieder unter Leute gehen, beobachten und beobachten lassen, den Blick über over- und underdresste Outfits schweifen lassen … Stattdessen schmeiße ich den Beamer an und folge dem Online-Link hinein in einen Theaterabend Zuhause: Heimtheater – eine Erweiterung des wohl bekannten Heimkinos.
Während ich noch Lautstärke und Kissenposition versuche zu optimieren, fühle ich mich bereits im Bann der Vorstellung gefangen. Oder besser gesagt im Bann des Augenpaares, das mich von einer Leinwand über der Bühne aus direkt anstarrt. Kurz muss ich über die Leinwand-Dopplung und die vereinzelten, damals noch unbeachteten, Huster aus dem Saal schmunzeln, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder den Riesen-Augen widme. Es sind die Augen einer Frau, die soeben davon abgehalten wurde, aus dem siebten Stock zu springen und nun von ihrem Lebensretter eingeladen wird, sich der Party auf eben jener Dachterrasse anzuschließen. Es ist eine höchst persönliche, intime Szene, die das Stück von Bernhard Studlar unter Regie von Claudia Bauer eröffnet und gleich zu Beginn das Thema der zwischenmenschlichen Abhängigkeit anschneidet. Das Versprechen, am Leben zu bleiben, sowie jedes andere Versprechen auch, jede Abmachung und jede Verabredung – eine gegenseitige Abhängigkeit.
Die Antwort auf die Frage „Warum wollten Sie springen?“ muss allerdings auf sich warten lassen, die Projektion auf der Leinwand verschwindet, die Bühne taucht in diskoähnliches blau-lila Licht und es treten mehrere Personen auf die Bühne. Sie tragen schillernde, bodenlange Satin-Kleider, Perücken und Masken (nein, keine FFP2, sondern welche, die das gesamte Gesicht bedecken und starre Gesichtsausdrücke zeigen). Sie bewegen sich in mechanischen, repetitiven Bewegungen, tanzen in v-förmiger Formation oder in Walzertakten. Es sind gesellschaftliche Normen und Strukturen, die den Takt des Lebens vorgeben. Stets geordnet und bemüht, die Fassade bzw. Maske nicht fallen zu lassen, hinter der eine jede Person ihr Leben lebt. Sie sind Paare und Eltern, Singles und erwachsene Kinder, die sich über Bio-Bier und Kapitalismuskritik unterhalten, die versuchen sich um ihre älter werdenden Mütter und Väter sowie die perfekte Erziehung ihres Nachwuchses zu kümmern. Was sie alle verbindet, ist der gesellschaftliche Druck, dem sie ausgesetzt sind, sodass nicht nur gegen das Unkraut im eigenen Garten, sondern auch gegen sich selbst und die eigenen Bedürfnisse jeden Tag aufs Neue angekämpft wird.
Doch hinter all dem Schein lässt sich eine Leere erkennen, die die Generation der 30 – 50-Jährigen prägt. „Ich tue dies und jenes und wollte eigentlich etwas anderes tun.“, hört man es aus einem Mikrofon vom Bühnenrand aus sprechen. Sie leben ein scheinbar erfülltes Leben in Hektik, das mehr von Einsam- als Gemeinsamkeit bestimmt wird.
Mit zunehmender Spieldauer nimmt das Stück immer mehr an Fahrt auf, das Treiben auf der Bühne wird hektischer und die Fassade der vom Alltag Ermüdeten beginnt zu bröckeln. Die anfängliche Sittlichkeit nimmt tierische Züge an und der Fokus auf gesellschaftlichen Normen wird gegen Essen, Schlafen und Sex eingetauscht. Das Sinnbild der Primitivität wird erreicht, als zwei SchauspielerInnen in einem riesigen, wurmartigen Konstrukt über die Bühne kriechen, über welchem die „strahlende Gleichgültigkeit der Sterne strahlt“.
Das 130-minütige Stück besteht aus einem Wechsel zwischen Intimität und Anonymität, Zweisamkeit und kollektivem Auftreten, persönlichem Schicksal und gesamtgesellschaftlicher Satire, Individualität und Verfremdung, Leben und Tod. Es zeichnet ein urkomisches, unterhaltsames und ebenso ehrliches Bild der Gesellschaft wie sie lebt und leidet. In einem Moment noch peinlich berührt, findet man sich im nächsten lachend wieder, weil man sich selbst in der Person erkannt hat, die wie wild von rechts nach links über die Bühne rennt, weil sie sich nicht entscheiden kann, oder in der, die bildlich unter der Last eines Steins, der ein Telefon darstellen soll, zerbricht.
Mehr erheitert und erfrischt als ermüdet endet für mich „Die Ermüdeten oder das Etwas, das wir sind“ und versorgt mich noch für einige Zeit mit Stoff zum Nachdenken. Bunt, wild und ehrlich.
Magali Raßmann (22), studiert Psychologie und hat eine Vorliebe für Zugfahren, in-Worte-gefasste-Gedanken und im-Kopf-bleibende-Worte, BIC Kugelschreiber, kleine und große Alltagsabsurditäten oder auch die Kombination aus all dem.