Kann Theater trotz der Re:präsentationsfallen, die es birgt, Lebensrealitäten vielschichtig darstellen und anhand einer Rolle die Komplexität eines jeden Einzelnen darstellen? Ja!
Wie das möglich ist, zeigen Marco Damghani und Eidin Jalali im großartigen Werk "Die Leiden des jungen Azzlack" im Dringeblieben Stream.
Wie vielseitig ist eine einzelne Person? Welche Facetten hat sie, welche Möglichkeiten, diese auszuprobieren oder sogar zu entfalten und warum? Wie viel deines Selbstvertrauens kann dir genommen werden, wenn andere es sind, die dir eine Selbstdefinition vorschreiben?
Damghani hat eine Komposition aus Text und Bildern geschaffen, die einen gleich zu Beginn an sich reißt, mit sich zieht und bis zum Schluss nicht loslässt. Jeder Satz ist ein weiterer Schritt in die endlose Komplexität des Individuums. Kein Wort darf verpasst werden, weil jedes einzelne wichtig ist. Jeder Stereotyp, jedes Klischee, jedes Vorurteil, das erwähnt wird, wird durch ein Überziehen oder Gegenüberstellen, durch ein Verkehren in die gegenüberliegende Sichtweise, angeprangert. Humorvoll und doch gleichzeitig todernst wird dem Publikum auf vielseitige, meist ironische Weise dargelegt, wie lächerlich und zerstörend die alltägliche Kategorisierung ist. Doch keines der Mittel ist zu viel und trotz der strukturellen Diskriminierung und dem damit zusammenhängenden Leid wird die Menschlichkeit hinter dem Versagen nicht außer Acht gelassen. Den Almans, die sich für besonders reflektiert halten, weil sie sich ab und zu mit Rassismus auseinandersetzen oder denen, die sich nicht damit auseinandersetzen, weil… äh… es sie nicht betrifft (?), wird eine Lehrstunde bereitgestellt, wie sie klüger und spannender zugleich kaum sein könnte. Gleichzeitig wird all denen, die nicht zu den Kartoffeln gehören, eine Identifikations – und Abreaktionsfläche geboten. Jedenfalls scheint es aus der Kartoffelperspektive so zu sein, als könnten sich einige migrantisierte Personen beim Zuschauen dieser Performance wohler fühlen als bei einer klassischen „Die Leiden des jungen Werther“-Inszenierung. Eine einzelne Person reicht aus, um so viele, selten abgebildete Lebensrealitäten mit einzubeziehen und dennoch fungiert sie nicht als Stellvertreter:in einer vermeintlichen Gruppe.
Eidin Jalali zeigt durch sein unfassbares schauspielerisches Talent eine sehr weite Bandbreite an Gefühlen, drückt sie aus mit vielseitiger Mimik, durch seinen bewussten Umgang mit Sprache, Stimmklang und Tonhöhe, Körperhaltung und Gestik. Egal, ob Angst, Unsicherheit, Mut und Sicherheit, Trauer und Schmerz, Wut, Fassungslosigkeit, Sehnsucht, Einsamkeit, Verständnislosigkeit… alles scheint echt und wahrhaftig so erlebt worden zu sein. Er rekapituliert die Erfahrungen von Aufnahmeprüfungen, vom Szenenstudium oder Sprechunterricht und spielt dabei so viele unterschiedliche Rollen und Charaktereigenschaften, dass nach Ende des Stückes Verwunderung bleibt, wie all das eine einzige Person hatte verkörpern können.
Das Szenenbild und das Spiel mit symbolischen Gegenständen, die Kameraführung, die eingespielten Videos, das Licht - alles fügt sich so perfekt zusammen, dass auch das Mikro, was sich ab und zu mal im Bild sehen lässt, eine Rolle zugeschrieben bekommen könnte: die Transparenz der Produktion, Authentizität. Hier könnte eine ellenlange Hommage für diese beiden jungen (als) Künstler (gelesene) entstehen. Doch an der Stelle lieber der Appell, an alle die in irgendeiner Weise mit Theater zu tun haben und auch ganz besonders an alle, die nichts mit Theater zu tun haben: Schaut euch dieses Stück unbedingt an!
Wenn das Schauspiel Leipzig weiterhin Theater jener Art präsentiert -Theater, welches Theater in Frage stellt, weiter entwickeln will, Menschen abbildet, die es sonst nicht oder viel zu wenig werden – und zwar als komplexe Individuen, statt als Repräsentant:innen irgendwelcher Stereotype, dann würde es nicht nur einige Zuschauer:innen für mehr Veranstaltungen gewinnen, sondern vielleicht einen bedeutenden Teil zur Umstrukturierung unserer marginalisierenden Gesellschaftsordnung beitragen! (Wobei dazu natürlich noch einige andere Schritte getan werden müssten.) Dieses Stück reiht sich ein, neben einige andere Werke, welche die Hoffnung auf eine Veränderung hin zum Guten tragen und hoffentlich das Theater der Zukunft formen.
Das Stück "Die Leiden des jungen Azzlack" ist am 05.02. um 20:00 Uhr wieder in der Diskothek zu sehen.
Helena Kauschke träumt von einer diversitätsbewussten Gesellschaft, in der der Fokus auf einem Lernen innerhalb von Prozesshaftigkeit liegt und sieht dabei großes Potential im Theater.