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Big Time Sensuality

Lebensbedingungen auf Kapitalismusruinen, Assoziation und Zuversicht, Verflechtungen von Verpflichtungen, Mischwesen und Möglichkeitsräume. A Shape of Trouble to Come ist eine Heterotopie: Ein Raum aus tatsächlich realisierten Utopien, losgelöst von gegenwärtigen Funktionsweisen der Gesellschaft, beispielsweise. Die Inszenierung ist weniger das titelgebende Ritual, denn dafür ist der Theaterabend zu besonders, noch ist es posthum - das wird vielleicht erhofft: Der beinahe neunzigminütige Welttraum aus dem Leipziger Schauspielhaus berichtet von Missionen und Metamorphosen (es wird Zeit). Als Vortrag, Störung und Beschwörung verzaubert das FARN.collective die Herangehensweisen an das Anthropozän. Dabei verfangen sie sich in den großen Themen: In Bewusstseinen, Zukunftsideen, Naturverbundenheiten, Lebewesen, Fortschritt, Wagnissen und Wechselwirkungen ist die Umwelt eben stets um den Menschen als Mittelpunkt. Waffen, als verwerflicher Beweis des Menschseins, liegen griffbereit. Ebenso wie Erzählungen über Behältnisse und Verbundenheit: Röhrenfernseher ohne Innenleben sind das große Bild der Wertschöpfungsinszenierung. In hübschen Eindrücken hinterfragen die Akteur:innen den Austausch durch die Kunst, der längst Reichweiten in die Natur erlangt haben könnte – und zwar soweit, dass vielleicht Vegetation die Kommunikation überholt: Was ist mit der Poesie der Vögel? Der Sprache der Aubergine oder die überirdische Schönheit eines Pilzmyzels?

 

Enjoy

Der Bühnenraum voller Ideale ist umrandet von Leuchtsignalen und spielerischem Geflimmer. Die Tiefe ist ausgestattet mit Scheinwerfern und Nebelschwaden, vor denen die Akteur:innen Erde schieben. Neonröhren, Pflanzenpflege, geisterhafte Projektionen, Livekameraaufnahmen sind stets um die Bühnenpräsenz Sandra Hüllers arrangiert. Die Inszenierung wirkt – aus einem vorher umgebauten Instrumentarien scheint die anhaltende, diffuse Geräuschkulisse aus Klaviertraurigkeit und Stimmengewirr zu klirren. Plötzlich löst Dröhnen die Stimmung ab, Bilderfluten zappeln im Bühnenraum, eine nächste Phase wird eingeleitet. Meditation wird zum Medienkonsum. Gegen den Schallrausch singt Christoph Müller. Er ist ausgestattet mit einem halbtransparenten Leo-Kostüm und sparsamem Scheinwerferlicht. Apathisch verstrickt er sich und das Publikum in „Can’t stop now, I’ve traveled so far, to change this lonely life…“.  Das Ensemble wechselt die Kleidung und läutet eine neue Stufe ein. Nachdem Alltagsunauffälligkeit den Laborkitteln und Entdeckerdrang weichen, hüllen nun pompöse Schmuckstücke die Personen ein. Letztere strahlen besonders in ihrem Kontrast von Weiß und dunklen Erdbahnen, die sich über die Bühnenfläche erstrecken. Livemusik und Björkvibes zelebrieren ein Finale aus Verbundenheit in Netzprojektionen. Die Akteur:innen zappeln zu Gitarrengeklimper im überirdisch schönen Gewand.

 

The Modern Things

„Die Welt braucht uns nicht, aber wir brauchen die Welt“ verliert sich beinahe in den zahlreichen Eindrücken der Aufzeichnung aus dem Schauspiel Leipzig. Innovation ist mehr als das Durchbrechen linearer Erzählstränge. Die ideengeladene Inszenierung ist bildgewaltig, in seinem Aufbau abwechslungsreich und unbedingt beeindruckend. Statt Erinnerungen zu reproduzieren (auch wenn es das Medium der Aufzeichnung nicht unterstützt) propagiert das FARN.collective Eventualitäten statt Vergangenheit, sie sinnieren über Abzweigungen. Das Weltende ist vorstellbar, der Kapitalmusschluss nicht. Das Debakel auf Humus kümmert sich um das „Werden“ statt um das „Sein“. Pathetisch, aufgeladen von Energien soll sich der Kosmos „verwandt machen“, das Zaudern und die Angst vergessen, für ein natürliches Glück. Viele schöne Hülsen, die nur darauf warten, gefüllt und gefühlt zu werden: Das funktioniert! Die Wahrnehmungen schlingern – nicht nur durch visuelle Eindrücke, auch durch Herangehensweisen, Erzählungen und Zusammensetzungen der Textbruchstücke.

 

Post

The Shape of Trouble To Come zeigt Fadenspiele von Donna Haraway, Ursula K. Le Guin und Heiner Müller, in dem sich das FARN.collective weiter verfängt. Sie setzen die Vorlagen neu zusammen und geben Muster preis, anstatt kleine Knoten einzelner Details zu entwirren. Friemeln am Zeitgeist (ganz ohne Pandemiebezug):  Mit Zähnen, Händen und Füßen verstricken sich Zuschauende Zug um Zug in die Herangehensweisen an das zukünftige Denken und Handeln. Unter der Regie von Tom Schneider entwickelte die Gruppe ein fantastisches Spiel, wenn nicht gar ein Fest, das einen herrlichen Alltagsausbruch erlaubt. Sehgewohnheiten werden überwunden. Seit der Uraufführung im Juni 2021 trifft der große Rausch vereinnahmend und erzählt von in herrlichen Ästhetik von einer Welt, die schön bewohnt werden möchte. Solange das Publikum die Darstellung noch mit eigenen Gedanken, Ideen und Träumen ausstattet, lohnt es sich, vor dem Bildschirm zu applaudieren - bevor der Alltag wartet, diese neuen Inspirationen einzupflegen, einzubringen. Das ist doch das Rituelle, Wiederkehrende das so verheißungsvoll und anstrebenswert ist?!


 Claudia Helmert bemüht sich stets um den mood, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei schadet es ja nicht, sich von allem Schönen berauschen zu lassen.