Verkenne Dich
Franz Kafkas Erzählungen verleiten Leser:innen in scheinbare Labyrinthgänge, bei denen sich mit jedem Deutungsversuch neue Wegbiegungen oder schöne Versprechungen offenbaren. Die wortgewordenen Irrwege des Autors faszinieren und vereinnahmen durch die abstrakten Umgebungen aus Moderne, die dennoch ganz konkret das Gefühl von Verlorenheit auslösen. Einen Versuch der Auseinandersetzung mit dem Stoff, aus dem Albträume sind, wagt Philipp Preuss am Schauspiel Leipzig: Der Hausregisseur lässt Das Schloss in seiner Fadenscheinigkeit, seiner Verheißung in allen Köpfen thronen: Dabei hält er sich mit Interpretationen und Eindeutigkeit zurück. Stattdessen malt er formschöne Umrisse über die dichten Textmaschen des posthum veröffentlichten Romanfragmentes und weiteren kafkaesken Wortbeiträgen. Die Geschichte verstrickt die Zuschauenden in die Weltgeworfenheit der vergeblichen Mühen eines Landvermessers, der sein Schicksal auf und als Brücken und Abgründe erzählt, sich in Monologen aus Unfreiheit und Entfremdung in unerschöpfliche Selbstverlorenheit stürzt.
Groß, größer, imaginativ
Wie die Textcollage aus Kafkas Werken schon vorgibt, irrt das Schauspiel durch Persönlichkeiten, die im Rollenwechsel die Austauschbarkeit der Verzweifelten suggerieren. Über zweieinhalb Stunden bemüht, der Gleichförmigkeit zu entkommen, zeigen sich Alina-Katharin Heipe, Roman Kanonik, Andreas Keller, Markus Lerch, Annett Sawallisch, Bettina Schmidt und Elzemarieke de Vos in ihren Figuren ausdauernd und charismatisch. Mit Schwarzmalerei bebildern sie ein Schattendasein auf Zeit, lassen Perücken fallen. Ungewollt zynisch reagiert das Ensemble auf einen Texthänger, in dem sie geplant entgegnen, dass das Gedächtnis des Vergessenden außerordentlich sei. Der Makel wird jedoch denjenigen Zuschauenden verwehrt bleiben, die bereits vor der ausbleibenden Auflösung den Saal verlassen.
Anfangs flimmern selbstreferenzielle Kacheln des Theaterprojektes k. über die halbtransparente Wand vor dem Bühnenraum: Das genutzte Videokonferenztool erinnert schnell daran, dass die Zoomwut allmählich abebbt. Ein kleines Schmunzeln entlockt das aufflackernde „bitte aktivieren Sie ihre Untertitel“ – als ob sich dort Kafkas Subtext offenbaren würde. Das Schloss baut sich als Erwartung durch die schönen Rhythmen vom Auf und Ab der funkelnden Bühnebildelemente (Ramallah Aubrecht) auf, aber auch hinter den Klavierträumen im Pulverschnee aus Plastik. Die sechs Tasteninstrumente werden nur von Kornelius Heidebrecht für erhabene Melodiebauten genutzt. Alle anderen Darsteller:innen schaffen eher Geräuschkulissen im warmspiegelnden Halbraum, sie tasten sich zu schnellem Geklimper vor, bei dem sich die Töne mechanisch verlaufen. Zentrale Bildelemente sind die Steinköpfe. Sie arrangieren sich nicht nur filmisch zu Kunstwerken, sondern drängen auch während der Aufführung unmittelbar Bedeutungen auf: festgefahrene Denkmuster, zwischenmenschliche Kälte. Das abgründige Wechselspiel mit und zwischen Rollen und Räumen dehnt sich aus: Die Theaterklingel, die sonst den Beginn einläutet, gellt zwischendurch und durchbricht die vierte Wand. Das Ende verliert sich in Gefängnisgittern aus Schatten, schwer zu fassen und bedrückend.
Gedankenausstellung
Der Rhythmus steckt im Detail: Das Schauspiel um das Dasein als Rädchen im Getriebe, um Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein funktioniert vor klaren Formen und dem schönen Text-Schwall. Die wabernden Worte lässt Philipp Preuss im Licht schillern und von Kostüm- und Kulissenbewegungen tragen. Am stärksten wirkt der Augenblick, in dem die Schauspielerinnen und Schauspieler geräuschvoll Lach- und Schmatzgeschichten erzählen, die sich nur durch die Übertitel von Implikationen lösen. Die Ideen von Schnee auf der Bürokratie, das schimmernde Dunkel wollen Gespräche anregen über angeprangerte Distanz und gescheiterte Versuche, sich auf etwas einzulassen. Nach der Textlast des aufgearbeiteten Romans Kafkas erschöpft sich die Aufmerksamkeit, sodass die Diskurse ausbleiben – nicht zuletzt, weil einige Zuschauende nach zweieinhalb Stunden flink aus dem Saal flüchten.
Philipp Preuss bemüht sich um die Visualisierung der sich überlagernden Bedeutungscollagen: Zwischen Ebenen und Transparenzen, Spiegelungen und Außerräumlichkeiten irren die Darstellenden bis zum Schluss. Kafkas Oszillieren zwischen Sein und Schein entpuppt sich als Reise mit einem Angstkoffer, endet in der Entfremdung. Mehr und neue Fragen schweben im Raum, der wie das Licht der baumelnden Glühbirne verhaucht. „Die Widerstände der Welt sind groß“. Mit den letzten Klaviertönen lichten sich alle Träume vom Schloss. Langsam scheinen die Farben der Ukraine-Flagge vor dem Bühnenbildspiegel auf – ein Leuchten der Solidarität in Zeiten des Krieges: Die Betroffenheit mit den Leidtragenden des Angriffskrieges von Putin ist außerhalb dieser Inszenierung ganz real und braucht keine Worte. Applaus, fin.
Claudia Helmert bemüht sich stets um den mood, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei schadet es ja nicht, sich von allem Schönen berauschen zu lassen.