„Ich opfere mich für die nächsten 2.000 Jahre! Denn bis heute hat sich sehr wenig geändert“. Kann eine (Ersatz)Opferung die Gewalt und die Rache in Schach halten?
"Ich bin ein Mythos"
Hinterbühne des Schauspiel Leipzig. Ein bemaltes Segel zeigt die Fassade eines antiken Palastes. Vor dem Publikum eine große Treppe. Drei Versionen von Opfern oder rächenden Held:innen in grünen Roben mit blonden Perücken und beigen Masken. Wie Mumien bewegen sie sich auf der Bühne. Die Schauspieler:innen Amal Keller, Dirk Lange und Denis Petković in zwei Rollen, als Lucretia und Medea.
„vendetta vendetta (a bunch of opfersongs)“ betitelt der Regisseur Thomas Köck sein neues Theaterstück, ein Auftragswerk des Schauspiel Leipzig. Womit beginnt die Geschichte der Rache? Beginnt sie mit einer Beleidigung? Ist Blutrache Recht oder Unrecht? Die Begriffe „Rache“ und „Recht“ sind ständig umstritten. Die Bühnenfiguren versuchen herauszufinden, wo die Grenzen und Unterschiede liegen, was gültig war und was sich heute geändert hat. Lucretia: eine legendäre Frau des antiken Roms von edler Herkunft und unvergleichlicher Schönheit, die nach ihrer Vergewaltigung aus Scham Selbstmord beging. In der kommenden Szene Medea, die Heldin der gleichnamigen Tragödie von Euripides, die entwaffnete, beleidigte Königin, die von ihrem Mann verlassene Frau, die in einem Moment des Wahnsinns, laut Euripides, ihre beiden Kinder ermordete. Medea, die sich jetzt an das Publikum wendet und jedes Mal, wenn sie Selbstmord begeht, fragt, wie viele Male reichen, um den Teufelskreis der endlosen Geschichte der Rache zu stoppen.
„Forever mein die Rache!“
Um und gegenüber der Held:innen befindet sich der neunköpfige Leipziger Frauenchor, einstudiert von Andreas Spechtl, der berühmte Opern singt (La Vendeta, Zauberflöte) und sich an die Zuschauer:innen richtet. Der Chor ist in Schwarz gekleidet, in fabelhafter Gothic-Ästhetik, barocken Kleidern von Martin Miotk mitsamt passender Schminke, Maske und Kopfbedeckung. Das Verhältnis von Körper und Stimme folgt dem rhetorischen Stil.
Im zweiten Teil des Stückes ist der Chor in einem Mix aus bunten Alltagskleidern, Retrostil mit futuristischen Akzenten, Plateauschuhen und Waffen in der Hand, wie Schwert, Axt, Schläger und Kettensäge zu sehen. Als Superheld:innen oder als Rächende aus der Mitte der Gesellschaft formiert sich der Chor bereit um zu protestieren, sich zu verteidigen oder sich zu rächen: „Alle gegen Alle“ – eine Abstiegsgesellschaft.
Die Darstellenden erfüllen die Anforderungen ihrer Rolle. Das Theaterstück als Idee und Sammlungsmaterial formuliert ein kluges Satzspiel, berührt den
Durchschnittszuschauenden und bringt ihn manchmal zum Lachen. Thomas Köcks Inszenierung wirft durch unterschiedliche Temperaturen, Rhythmen und Multimedia Schlüsselfragen auf und präsentiert
Beispiele aus der heutigen Zeit. Die gesellschaftliche Mitte zeigt sich entweder über das Internet (Shitstorm in Social Media) oder macht durch Demonstrationen (im Video-Wall der Sturm auf
das US-Kapitol) auf sich aufmerksam und nimmt das „Gesetz“ selbst in die Hand. Slogans und Banner erscheinen auf der Bühne, wie „Freiheit“, „Doch“ und „I want Action“. Die Aufführung
lässt viele Fragen offen. Was bedeutet Rache und Recht in unserer modernen Gesellschaft? Ist es möglich, Rache und Wut zu unterdrücken? Können Opfer Gerechtigkeit finden?
Der nächste Aufführungstermin von "vendetta vendetta. (a bunch of opfersongs)" ist:
So, 12.06. 19:30 — 20:00
Hinterbühne
Dimi kann ohne Theater, Filme, Konzerte und Reisen nicht leben. Monotonie "tötet" sie. Bevorzugter Songtext: "Der schönste Hafen ist der nächste".