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Eigenweltkatastrophe

„Angst, oder wie man das nennt“

 

Die Sommerwärme zwischen den Leipziger Gassen treibt in das wohltemperierte Innere des Schauspiel Leipzig. Vorbei an den neonfarbenen ClubFusion Bannern, an den durch Plastikröhren ersichtlichen Wertungen des vorherigen Theaterabends (erschöpft – glücklich – inspiriert - nachdenklich) und auch vorbei an den Türen, die sonst in den Theatersaal hineinführen. Eine Person am Einlass erklärt, dass man sich vielleicht selbst als Schauspieler:in fühlen könne, denn die Plätze für das Publikum seien heute auf der Bühne arrangiert. Dort kreiseln pinke und kühl-weiße Lichter im Takt dröhnender Disko-Bässe. Ganz fasziniert von den Bewegungen der Ausgelassenheit der Tanzenden im Bühnenraum, schweifen die Blicke die Zuschauer:innen umher. Blau geflieste Quader türmen sich auf, zwischen denen die 19 Darsteller:innen des Club ü31 in ihren eigenen Rhythmen zucken. Gehüllt in Weiß mit Badekappen, Schwimmwesten und funkelnden, wasserfesten Hosen, Gummistiefel und Stirnbandpink (Kostüme: Ragna Hemmersbach) untersuchen sie im Verlauf des Theaterabends Parallelen und Bezüge von Günter Kunerts (1929-2019) Parabel „Die Sintflut“. Ihr Stück „Jetzt steht‘s mir bis hier“ verhandelt Hedonismus, Eskapismus, Fragilität, Vergänglichkeit, Massen, Medien, Positionen und Panik – verloren als Einzelne:r oder hoffnungsvoll als Gemeinschaft.

 

„Und was bedeutet das jetzt für mich?“

 

Das „Leben mit dem Wasser“ prangt alsbald als Neonschriftzugleuchten über dem von Simone Neubauer inszenierten Geschehen. Die Darsteller:innen ergründen unter den Nebelschwaden ihre eigene Positionen, ihre Fadenscheinigkeit bei herannahender Katastrophe, ob da etwas zum Festhalten sein könne und wenn ja, wie lange. Das große „Und dann?“ bleibt offen. Demgegenüber scheint „berauscht dahinzuscheiden“ - gerne auf Popsongs, die sich auf Regen-Metaphern berufen - ein herrlicher Ausweg. Viel Reden um Nichts, Taten bleiben aus. So verwundert es kaum, dass im Spiel „Wahrheit oder Pflicht“ alle verlieren. Die propagierte Trägheit des Kollektivs wird wie ein verbaler Schutzschild vor sich hergetragen. Jenes könnte eine Aufschrift tragen, wie sie im Stück anklingt: „Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Bevölkerung, sich an Zustände zu gewöhnen.“ Dahinter repetieren die Darsteller:innen brüllend, flüsternd, rezitierend bisweilen sogar reflektierte Phrasen. Der imaginierte Neuanfang nach der nahenden Sintflut bleibt hypothetisch.

 

Gewissen? Verloren.

 

Mit reduzierten, dafür aber wohlgewählt symbolbildlichen Requisiten tanzt, schwingt und verstricken die 19 namenlosen Darstellerinnen vielmehr mit Worten, deuten auf Haltungen, Einstellungen, Pläne und Herangehensweisen während der herannahenden Katastrophe. Ihre nie auserzählten Charaktere reiben sich zumeist herrlich und überzeugend in ihren Positionen - obgleich das Timing im Sprechrhythmus für die liebenswerten Wortspielereien hier und da hinkt (bestimmt bedingt durch die Premierenfeier am Vorabend, den 02.07.2022). Jeder bleibt für sich, träumt jedoch vom Gemeinsamen: Hell erleuchtet reiht sich die Gruppe zwischen den roten Zuschauerreihen des Schauspiel Leipzig auf und schwimmt beseelt in den Rhythmen von Marterias „Welt der Wunder“. Ein heller Moment voller Hoffnung, „ein Hoch auf das Leben“ – Im tosenden Applaus und Bravorufen findet der bemerkenswerte Theaterabend in Blau sein Ende.

 

Der nächste Aufführungstermin von „Jetzt steht's mir bis hier" ist:

Di, 05.07 19:30


Claudia Helmert bemüht sich stets um den mood, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei schadet es ja nicht, sich von allem Schönen berauschen zu lassen.