Fünfzehn Spiegel auf rollbaren Stelzen bilden eine Wand, die den Blick in die Tiefe des Bühnenraums begrenzt. Die horizontale Wölbung der Spiegel multipliziert die Reflexion des Publikums. Von hinten hört man jemanden stöhnend einen schweren Gegenstand in Richtung Bühne schleifen. Dann werden zwei der Spiegel beiseite gerollt und durch die entstandene Öffnung in der Spiegelwand schiebt eine Frau eine massive Holzkiste auf die Bühne. Das Spiel „Fundstücke“ des Seniorinnenspielclubs „Die Spielfreudigen“ beginnt.
In dieser Kiste graben die Spielerinnen nach Erinnerungen. Gegenstände, auf Flohmärkten aufgespürt, in versteckten Winkeln des Dachbodens aufbewahrt, im Inventar des Wohnzimmers untergegangen, bis sie jetzt, wie unvermittelt, Vergangenes heraufbeschwören. Fragmentarisch entfaltet sich so – nicht das Vergangene selbst, sondern was es heißen kann: zu erinnern. In immer neuen Konstellationen bilden die Rollspiegel das Bühnenbild dieses Abends, Labyrinth und Kulisse, in dem sich die verwinkelten Züge des Erinnerns auftun.
Getragen ist das Stück allerdings nicht von Schwermut und Sentimentalität, in die sich unsere Erinnerungen allzu gerne tränken, sondern von Ironie und Freude am Erzählen. Die erste Erinnerung, die sich da auftut, ist die an den Liebhaber aus Schultagen. Das Rendezvous, zu dem er sie damals geladen hatte, fand sein jähes Ende, als der Draht seiner Zahnspange ihr die Zunge aufriss. Ob er wohl noch lebt?, fragt sie sich und findet seine Telefonnummer im Internet. Mit einem Mal ist sie ganz das aufgeregte Mädchen von damals. Die beiden verabreden sich, um das, was damals nicht in Erfüllung ging, nun doch zu vollenden. Aber schon, wie er die Bühne betritt, mit Gehstock und dickem Bauch, wird ihr klar, dass Erinnertes nicht wiederholt werden kann. Als er dann, wenig einfühlsam, näher rückt, sein Gebiss entfernt und zum Kuss ansetzt, hat sie genug und eilt stürmisch davon. Das, was unerfüllt geblieben ist, wird unter dem Schleier der Erinnerung gerade deshalb zum sehnlichen Wunsch, weil die Verwirklichung Phantasie bleiben muss. In die Gegenwart geholt, verlieren Wünsche der Vergangenheit ihren Glanz. So stellt sich dem Stück die Mahnung voran, sich im Erinnerten nicht zu verlieren.
Ein Paar Sommersandalen und eine blecherne Schreibtafel, ein Buch Karl Valentins und der geerbte Badeanzug von Tante Minna – an diesen Dingen offenbaren sich Stücke gelebter Tage. Das Erinnern entfaltet sich als humorvolles Spiel, das dann am einfühlsamsten ist, wenn die Distanz zwischen Erinnern und Erinnertem selbst thematisch wird. Die Erinnerung an einen Ausflug nach Westberlin spielt sich hinter den Spiegeln ab. Darunter sehen wir Zuschauenden Schuhe durch eine Welt tappen, die es nicht mehr gibt. Gerade, bevor die Geschichte ihren entscheidenden Moment erreicht, bricht die Erinnerung ab. Es bleibt ein Geheimnis zurück, das gerade dadurch Glück bereitet, dass es nicht gelüftet werden muss.
Immer neue Weisen finden die Spielerinnen, um Vergangenes wieder aufleben zu lassen. Die Leichtigkeit und das Vergnügen, mit dem die Seniorinnen auftreten, macht das Erinnern zu einem freudigen Spiel, das an keiner Stelle zu schmerzvoller Sehnsucht nach früher wird. Das Glück liegt nicht im Vergangenen, wovon die Erinnerung einen blassen Abglanz gibt, sondern das Glück besteht im Erinnern selbst und im Mitteilen dieser Erinnerung. So endet das Stück mit den lakonischen und irgendwie rührenden Worten: Lebt euer Leben!
Oskar mag das Absurde und Ironische und verliert sich gerne in Gedanken. In der Kunst sucht er nach schön formulierten Sätzen.