Auf der Bühne wirft uns ein riesiger rosa Bär aus der „Shakespeares-Atmosphäre“ heraus, bevor die Aufführung überhaupt beginnt. Musik ertönt und die sieben Schauspieler*innen erscheinen in Shorts, Hosen, Hemden und Pufferjacken in blassen Farben oder Blautönen, tragen lange weiße Perücken. Wie in einer Improvisationsübung, drehen sie sich umeinander herum, schauen sich in die Augen, posieren.
„Verona! Hier spielt unser Stück“
Die Darstellung beginnt mit einer kurzen Einführung durch die Akteur*innen, die gemeinsam oder einzeln, unabhängig von Geschlecht und Alter, viele Rollen (auch gleichzeitig) spielen
werden: „Wir sind Romeo, wir sind Julia“. Sie zeigen uns den Finger (F* Mom and Dad) und sie beziehen sich nicht nur auf die Familie Capulet oder Montague.
Die Geschichte des verliebten Paares ist weltbekannt, aber hier wurde das klassische Bild des Paares dekonstruiert. In dieser Darstellung spielt auch ein Charakter mit, der in Shakespeares Stück
sonst nicht so eine große Rolle spielt: Julias Cousine, Rosalinde. „Eine leidenschaftliche Frau”, in die Romeo
verliebt war, bevor er Julia auf dem Maskenball traf. Die Hervorhebung dieser Figur erinnert an den Film „Rosalinde“ von 2022.
Der gleichnamige Film (1996) mit Leonardo DiCaprio wird in der Aufführung kritisch beäugt. Eines steht fest: Auch wenn Romeo als Figur „universell
nutzbar" ist, hier wurde er anders präsentiert.
Ein Patchwork basierend auf Shakespeare
Die Regisseurin Pia Richter adaptiert die Geschichte des Paares, aber der
Titel der Aufführung verrät uns das nicht. Im Programm steht, dass die Bühnenfassung eine Bearbeitung von Pia Richter ist und die Figur der Rosalinde in Passagen von Ianina Ilitcheva aus „Ich
sehe die Einsamkeit vor mir, und sie ist leicht“ verarbeitet wurde.
Während des gesamten Ausmaßes an zwischengeschalteten Texten, die in Shakespeares Stück nicht gehören, versucht man herauszufinden, wann der Originaltext zu hören ist. Die Inszenierung bringt die
Liebesgeschichte in die Gegenwart, um bestimmte Thesen mitzuteilen und um die Freiheit des Individuums zu unterstützen: „Ich will emotionale
Autonomie“. Sie stellt alle Normen und Stereotypen infrage und lässt alle Interpretationen und Wege offen.
Pia Richter benutzt viele verschiedene Gags und Regie-Erfindungen und wählt den Weg der Parodie, der Satire („Ich will ein Haus von dir, ich will
Steuern sparen, ich will deiner Meinung sein, arrangierte Ehen machen glücklich”). Nicht alle Witze bieten Mehrwert bei der Inszenierung, sie provozieren
nur einfaches Lachen: wie Peter, der als Analphabet nicht die Gästeliste lesen kann. Auch die anderen brauchen Brillen, weil die Buchstaben zu klein sind und Julia und Romeo müssen sich mit
Seilen von der Bühnendecke hängen, trotz Romeos Höhenangst.
Die Schauspieler*innen brechen ständig die „vierte Wand" und wenden sich an das Publikum. Sie kommen von
der Bühne herunter und erreichen den hinteren Teil des Theaters: „Sollen meine Lippen diese Sünde büßen?”.
Die Pros
Sehr schöne Momente sowohl als Konzeption als auch als Inszenierung konstituieren die Verweise auf Stereotypen, auf die Rollen, die die Menschen seit
Jahrhunderten abverlangt haben und die mit allen Arten von Ungerechtigkeit und Ungleichheit, Ausbeutung und Heuchelei verbunden sind. Weil die Gesellschaft und die Familie es so wollten!
Welcher Mann könnte der richtige Partner sein, fragen und antworten alle Darstellenden: „Er soll den ersten Schritt machen – er soll schüchtern
sein, er soll lustig sein, aber nicht albern…“. Patrick Isermeyer in einer atemlosen karikierenden Rolle,
beschreibt mit körperlichen Bewegungen manche von diesen kontrastierenden Merkmalen. Dies gelang ihm brillant und erntete starken Applaus vom Publikum.
Sehr atmosphärisch singt Dirk Lange Shakespeares Text über Frau Mab auf Englisch: Queen Mab, no bigger than an agate stone, she is the fairies’ midwife…And she gallops…Through lovers’ brains, they dream of love…Over ladies’ lips, who straight on kisses
And she gallops over a soldier’s neck, and he dreams the cutting of a throat. She plaits the manes of horses in the night…she presses maids that they learn how to bear…
Teresa Schergauts Rosalinde, entzückend und überschwänglich. Alle Schauspieler*innen bewegen sich mit Leichtigkeit und Bereitschaft zur Teilnahme.
Denn die Aufführung besteht aus vielen kleinen Ereignissen auf der Bühne, jede*r bietet gute Schauspiel-Momente.
Die Contras
Die Ästhetik, unabhängig von persönlichem Geschmack, bleibt in dieser Inszenierung konstant in eine Richtung: Kitsch. Alle Kostüme und die Ersetzung
der Masken der Maskierten im „Ball“- Klub durch Bärenköpfe, auch wenn sie das groteske Element (großes
Bär-Haus) zu verstärken versuchen, wirken uninspiriert.
So wie die Inszenierung gestaltet ist, wird deutlich, dass der Text durch die Übersetzung und die Bearbeitung des Stücks zu einem anderen geworden ist, zu einer Variante von
Shakespeares „Romeo und Julia“. Die Absicht, die Geschichte einen Schritt weiterzubringen, ist vollkommen
verständlich, aber nicht auf Kosten der Schönheit des Theaterstückes von Shakespeare.
Die nächste Aufführung von „Romeo und Julia" ist am:
So, 26.03. 19:30-21:20
Große Bühne
Dimi ist Teilnehmer*in des Scenen::Notiz Kollektivs in der Spielzeit 2022/23.
Scenen::Notiz ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..
Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!